Die von der SVP lancierte Volksinitiative "Keine 10-Millionen-Schweiz! (Nachhaltigkeitsinitiative)" schlägt vor, das Bevölkerungswachstum der Schweiz zu begrenzen. Voraussichtlich im Jahr 2026 wird die Schweizer Stimmbevölkerung über diese Initiative abstimmen. Die Initiative stösst auf geteilte Meinungen: Während die Befürworter sie als notwendige Massnahme zum Erhalt der Lebensqualität und zum Schutz der natürlichen Ressourcen ansehen, betrachten die Gegner sie als wirtschaftlich riskant und als einen Schritt in die Isolation.
Was fordert die Initiative?
Die Initiative fordert die Einführung eines neuen Verfassungsartikels, der eine absolute Obergrenze für die ständige Wohnbevölkerung festlegt: Sie darf 10 Millionen Menschen «vor dem Jahr 2050» nicht überschreiten. Die Jahreszahl 2050 ist dabei keine Frist zur Reduktion der Bevölkerung, sondern definiert den Geltungszeitraum dieser starren Obergrenze. Ab dem Jahr 2050 soll der Bundesrat die Obergrenze an die demografische Entwicklung anpassen können. Der Initiativtext sieht ein mehrstufiges Vorgehen vor, wobei entscheidende Massnahmen bereits bei Erreichung von 9,5 Millionen Einwohnern greifen.
- Massnahmen ab 9,5 Millionen Einwohnern: Sobald die ständige Wohnbevölkerung diese Schwelle überschreitet, müssen Bundesrat und Bundesversammlung Massnahmen zur Begrenzung der Zuwanderung ergreifen, insbesondere im Asylbereich und beim Familiennachzug. Zudem sollen vorläufig Aufgenommene keine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung mehr erhalten können.
- Neuverhandlung von Verträgen: Ebenfalls ab 9,5 Millionen Einwohnern sollen völkerrechtliche Verträge, die zu einer Bevölkerungszunahme führen – insbesondere das Freizügigkeitsabkommen (FZA) mit der EU –, neu verhandelt werden, um die Einhaltung der 10-Millionen-Obergrenze zu gewährleisten.
- Kündigung als ultima ratio: Sollte die 10-Millionen-Obergrenze dennoch überschritten werden und Verhandlungen nicht zum Ziel führen, fordert die Initiative als letzte Konsequenz (sog. Notbremse) die Kündigung des FZA und anderer relevanter völkerrechtlicher Verträge.
Auffallend ist die für einen Verfassungsartikel ungewöhnlich hohe Detaillierung des Initiativtextes. Die Initianten ziehen damit Lehren aus der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Deren offen formulierte Verfassungsbestimmung ermöglichte es dem Parlament, eine mit dem FZA vereinbare Lösung («Inländervorrang light») zu schaffen. Der vorliegende Text soll durch seine präzisen Vorgaben einen solchen Umsetzungsspielraum bewusst minimieren und den Bundesrat zu einer Neuverhandlung und notfalls zur Kündigung des FZA zwingen.
Die zentralen Argumente
Die Befürworter begründen ihre Forderung mit den Folgen einer aus ihrer Sicht zu hohen Zuwanderung. Sie sehen die Initiative als Instrument, um auf folgende Herausforderungen zu reagieren:
- Knapper Wohnraum und steigende Mieten.
- Belastung der Infrastruktur wie Strassen, öffentlicher Verkehr und Spitäler.
- Zunehmende Bodenversiegelung und Druck auf die Natur.
- Herausforderungen für die Energie- und Versorgungssicherheit.
Die Gegner der Initiative anerkennen die Herausforderungen, die mit dem Bevölkerungswachstum verbunden sind, erachten die vorgeschlagenen Massnahmen jedoch als ungeeignet und warnen vor negativen Konsequenzen:
- Gefährdung des bilateralen Wegs: Die Initiative ziele letztlich auf die Kündigung des Freizügigkeitsabkommens ab, was das gesamte bilaterale Vertragswerk mit der EU gefährden würde.
- Wirtschaftliche Nachteile: Eine Kündigung der Bilateralen Verträge I würde den Zugang zum wichtigsten Markt der Schweiz erschweren und könnte Wohlstand und Arbeitsplätze beeinträchtigen.
- Verschärfung des Fachkräftemangels: Ohne Zuwanderung
aus der EU würde sich der Mangel an qualifizierten
Arbeitskräften in Sektoren wie dem Gesundheitswesen, dem
Baugewerbe oder der Gastronomie weiter zuspitzen.
Die Bedeutung und Folgen einer Kündigung des Freizügigkeitsabkommens (FZA)
Das FZA ist ein zentraler Bestandteil der Bilateralen Verträge I – bestehend aus sieben Abkommen, die der Schweizer Wirtschaft einen umfassenden Zugang zum EU-Binnenmarkt sichern. Diese sieben Abkommen sind durch die sogenannte "Guillotine-Klausel" rechtlich miteinander verbunden: Wird eines dieser Abkommen gekündigt, treten alle anderen sechs Abkommen ebenfalls ausser Kraft. Die möglichen Folgen eines Wegfalls der Bilateralen I wären weitreichend:
- Wirtschaft: Studien im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) haben in der Vergangenheit auf mögliche negative Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt und die Einkommen hingewiesen.
- Schengen/Dublin (Bilaterale II): Ein Wegfall der Bilateralen I hätte auch Auswirkungen auf die Bilateralen II. Die Teilnahme der Schweiz am Schengen-System (Reisefreiheit) und am Dublin-System (Asylkoordination) wäre ebenfalls gefährdet. Die Reisefreiheit könnte eingeschränkt werden, und es könnte zu einem Anstieg irregulärer Migration sowie einem aufwendigeren Asylwesen kommen.
- Beziehungen zur EU: Die Initiative steht im Widerspruch zu den
aktuellen Verhandlungen des Bundesrates über die Bilateralen
III, die das Verhältnis zur EU stabilisieren sollen. Eine
Annahme würde die Fortführung des bilateralen Wegs in
seiner jetzigen Form verunmöglichen.
Juristische Umsetzungsfragen
Trotz des dezidierten Wortlauts der Initiative würde eine Annahme unweigerlich eine intensive Debatte über verbleibenden Spielraum bei der Umsetzung auslösen. Ähnlich wie nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative würde die Frage im Raum stehen, ob eine FZA-konforme Auslegung und Umsetzung rechtlich und politisch denkbar wäre, um den Konflikt zwischen dem neuen Verfassungsauftrag und den bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen zu entschärfen. Die präzise Formulierung der Initiative engt diesen Spielraum jedoch erheblich ein.
Ausblick
Die Initiative "Keine 10-Millionen-Schweiz" stellt die Weichen für die zukünftige Ausrichtung der Schweiz. Es geht um die grundlegende Frage, ob die Zuwanderung durch eine feste Obergrenze reguliert werden soll, auch unter Inkaufnahme möglicher wirtschaftlicher Folgen und einer Neuordnung der Beziehungen zur EU. Alternativ könnte der bisherige Weg mit engem Marktzugang beibehalten und den Herausforderungen des Wachstums mit anderen politischen Massnahmen begegnet werden. Diese Debatte wird die politische Agenda in den kommenden Jahren bestimmen.
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